«Über einen Spitalaufenthalt denken Sans-Papiers zwei Mal nach»
Der Arzt David Winizki behandelte jahrelang Sans-Papiers zu einem stark reduzierten Tarif. Im Gespräch erzählt er, was das Coroanvirus für Sans-Papiers bedeutet und warum sie Angst vor einem Spitalaufenthalt haben.
Welche Sorgen umtreiben Sans-Papiers zurzeit am stärksten?
Die Arbeit zu verlieren, stellt für Sans-Papiers eine grosse Angst dar. Aber auch die Sorge wegen der Gesundheit gehört dazu. Dies unterscheidet sich natürlich von Person zu Person. Ich will die Sans-Papiers nicht alle über den gleichen Kamm scheren.
Die Sans-Papiers stellen keine homogene Gruppe dar?
Natürlich nicht. Sans-Papiers kommen aus verschieden sozialen Milieu. Aus meiner Erfahrung hat ein Drittel der Sans-Papiers einen akademischen Hintergrund.
Gibt es Faktoren, die Sans-Papiers für eine virale Erkrankung besonders anfällig machen?
Sicher, Sans-Papiers arbeiten oftmals in Bereichen, wo sie häufig mit Leuten in Kontakt kommen, hier besteht eine reelle Ansteckungsgefahr. Vor allem können sie nicht zu Hause bleiben, da Sans-Papiers keine Lohnfortzahlungen haben. Auch von der Absicherung in Form von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld profitieren Sans-Papiers nicht. Generell haben Sans-Papiers ausserdem immer Angst vor der Ausweisung. Über einen Spitalbesuch muss wegen der drohenden Ausschaffung immer zweimal nachgedacht werden.
Auch die Kosten der medizinischen Versorgung – Police, Franchise, Selbstbehalt – schrecken die Sans-Papiers wohl von einer medizinischen Behandlung ab?
Natürlich. Nur fünf bis zehn Prozent der Sans-Papiers können sich überhaupt freiwillig eine Krankenkasse leisten. Die anderen Sans-Papiers schliessen meistens erst bei Krankheitseintritt, also wenn es notwendig ist, einen Vertrag mit einer Krankenkasse ab.
Wie erfahren Sans-Papiers von den behördlichen Verordnungen?
Dass die Sans-Papiers informiert werden, ist sehr wichtig. In der Vergangenheit wurden auch schon MediatorInnen eingesetzt, um an die Sans-Papiers zu gelangen. Alle Quellen müssen angezapft werden. Radio Lora, das von Sans-Papiers gehört wird, berichtet über die Lage. Auch über das Handy und via Social Media holen sich Sans-Papiers ihre Informationen. Tageszeitungen hingegen werden von den Sans-Papiers eigentlich nicht gelesen, vielleicht mit Ausnahme von 20 Minuten. Ein wichtiges Element ist die indirekte Kommunikation. Der allergrösste Teil der Sans-Papiers geht einer Erwerbstätigkeit bei Avec-Papiers nach. Über diese ArbeitgeberInnen besteht eine Chance, die Sans-Papiers zu informieren.
Was sind die Folgen, wenn die Gesundheitsversorgung für kranke Sans-Papiers während einer Pandemie nicht gewährleistet ist?
Ganz simpel: Sie stecken mehr Personen an.
Wie beeinflusst die prekäre Situation der Sans-Papiers die Gesellschaft?
Jetzt bricht eine der Widersprüche auf: Wir haben Personen in unserer Gesellschaft, die hier arbeiten, ohne soziale Absicherung, und deshalb im Krankheitsfall nicht aussteigen können. Hier haben wir die Analogie zur HIV-Epidemie: Wenn es nur die Sans-Papiers betrifft, wird nichts gemacht. Nimmt aber etwa ein junger Mann vom Zürichberg die sexuellen Dienste einer drogenabhängigen Person in Anspruch und steckt sich mit dem HI-Virus an, löst dies ein Drama aus und Massnahmen wie Spritzenabgaben werden durchgebracht. Das ist natürlich zynisch.
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David Winizki
1989 eröffnete David Winizki eine Hausarztpraxis im Zürcher Seefeld und betreute fortan Menschen, die sich sonstwo keinen Arztbesuch leisten konnten. Heute lebt der 72-jährige mit seiner Familie in Zürich.